Depressionen: vom Umgang mit einer besonderen Weltsicht

Was ist Depression? Diagnostik und Perspektiven
Depression ist mehr als ein Stimmungstief – sie ist eine tiefgreifende Veränderung im Erleben, Denken und Fühlen. Psychotherapeutisch wie psychiatrisch wird sie klassisch diagnostisch erfasst, etwa nach ICD-10 als „Episode einer depressiven Störung“ (F32) oder „rezidivierende depressive Störung“ (F33). Das DSM-5 spricht von der „Major Depression“ mit einer Liste von neun Hauptsymptomen, wovon mindestens fünf über einen Zeitraum von zwei Wochen bestehen müssen – darunter depressive Stimmung, Interessenverlust, Schuldgefühle, Schlafstörungen oder Suizidgedanken.
Während die klassische Psychiatrie häufig von einer neurobiologischen Dysregulation (z. B. im Serotoninhaushalt) ausgeht und Medikamente wie SSRIs oder SNRIs verordnet, betonen psychotherapeutische Sichtweisen, dass Depression nicht nur ein Krankheitsbild ist, sondern auch eine Form, die Welt zu erfahren – als sinnleer, unverbunden, unbewohnbar.
Die philosophisch-existenzielle Perspektive stellt die Frage: Was enthüllt die Depression über das Menschsein selbst? Ist sie ein seismografisches Symptom für eine entfremdete Kultur, die keine Sprache für Verletzlichkeit mehr hat?
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Globale Prävalenz
Laut WHO leiden weltweit rund 280 Millionen Menschen an Depressionen – das entspricht etwa 3,8 % der Weltbevölkerung. Frauen sind dabei fast doppelt so häufig betroffen wie Männer. Depression ist laut der Global Burden of Disease Study eine der führenden Ursachen für krankheitsbedingte Einschränkungen weltweit.
Situation in Mitteleuropa
In Österreich geben laut Gesundheitsministerium etwa 8 % der Bevölkerung an, aktuell an depressiven Symptomen zu leiden. In Deutschland sprechen Studien von einer Lebenszeitprävalenz von bis zu 17 %. Besonders betroffen sind nicht nur ältere Erwachsene, sondern zunehmend auch junge Menschen, Studierende und junge Berufstätige, die sich in einer hyperflexiblen, aber bindungslosen Welt orientierungslos fühlen.
Verschiedene Formen der Depression
Major Depression
Die klassische schwere depressive Episode, oft mit ausgeprägtem sozialen Rückzug, Antriebslosigkeit, Schlafstörungen und affektiver Verflachung. Sie ist für viele das „Gesicht“ der Depression, doch darunter liegen individuelle Biografien, Sinnfragen und oft ein tiefes inneres Ringen mit einem unbenennbaren Mangel.
Dysthymie (Persistierende depressive Störung)
Eine chronische, weniger intensive Form der Depression, die über Jahre bestehen kann. Oft wird sie erst spät erkannt, da sie mit der eigenen Persönlichkeit „verschmilzt“. In der Dysthymie zeigen sich depressive Grundüberzeugungen: „Ich bin nicht genug“ oder „Das Leben wird nie besser sein“ – ein existenzielles Murmeln im Hintergrund.
Melancholie
Traditionell unterschieden von der Depression, ist die Melancholie in der Psychoanalyse eine pathologisch fixierte Trauer, bei der der Verlust nicht bewusst betrauert werden kann. Sie zeigt sich oft in einem Gefühl existenzieller Schuld und Leere, das jenseits der normalen Trauer liegt. Philosophisch gedacht ist die Melancholie ein Resonanzraum für das, was in der modernen Welt nicht mehr ausgesprochen werden kann.
Literaturverweise
Freud, Sigmund (1917): Trauer und Melancholie. In: Gesammelte Werke, Band 10. Fischer, Frankfurt am Main
Han, Byung-Chul (2010): Müdigkeitsgesellschaft. Matthes & Seitz, Berlin
Grawe, Klaus (2005): Psychologische Therapie. Hogrefe, Göttingen
Böker, Heinz & Brodbeck, Daniel (2019): Depressionen verstehen. Psychodynamik, Therapie, Neurobiologie. Schattauer, Stuttgart
WHO (2023): Depression. Fact Sheet.
Statistik Austria (2022): Gesundheit in Österreich – Bericht zur Lage der Nation. Wien
Therapieformen im Überblick
Integrative Gestalttherapie
Die integrative Gestalttherapie versteht Depression als Kontaktstörung. Betroffene erleben sich von der Welt abgeschnitten, die Vitalität ist gehemmt. Durch das dialogische Prinzip wird die therapeutische Beziehung zur Grundlage für neue Erfahrung. Zentral ist dabei nicht die „Korrektur“ von Symptomen, sondern das Wiederfinden eines lebendigen, gegenwärtigen Selbstbezugs.
Das depressive Erleben wird als Ausdruck eines gestauten Lebensflusses verstanden, nicht als Defekt. Die therapeutische Haltung ist dabei radikal bejahend, nicht optimierend.
Systemische Therapie
Systemische Psychotherapie betrachtet Depression im Beziehungs- und Kommunikationskontext. Symptome werden nicht isoliert, sondern als Ausdruck von Bindungsmustern, Loyalitäten und Rollen in familiären oder sozialen Netzwerken verstanden. Therapie bedeutet hier oft: neue Narrative finden, Muster unterbrechen, Alternativen erproben.
Gerade junge Menschen sprechen gut auf systemische Formate an, da sie sich in sozialen Dynamiken oft besser verstanden fühlen als in introspektiven Deutungen.
Psychoanalytische Therapie
Die psychoanalytische Therapie deutet Depression als Folge unbewusster Konflikte, oft im Spannungsfeld von Schuld, Verlust, Aggression und Ideal. Die Depression ist hier nicht nur ein Symptom, sondern ein Symbol: Sie zeigt, dass etwas im Inneren nicht integriert werden konnte.
Die analytische Arbeit zielt auf die Veränderung des unbewussten Begehrens – nicht durch Korrektur, sondern durch Verstehen. Das depressive Subjekt wird nicht „repariert“, sondern als Träger einer bedeutungsvollen Erfahrung ernst genommen. Therapeutisch entsteht daraus eine Ethik der Geduld.
Depression als Weltbeziehung – Eine kritische Würdigung
Die heutige Kultur neigt dazu, jede Form von Traurigkeit, Rückzug oder Melancholie zu pathologisieren. Doch Depression ist nicht bloß ein „Defizit“. Sie kann auch als existenzieller Ausdruck von Entfremdung, als kritischer Kommentar zur Welt, als Aufschrei des Subjekts gelten.
Wie Byung-Chul Han schreibt: „Die Depression ist keine Krankheit des Ichs, sondern ein Ausdruck seiner Erschöpfung im neoliberalen Leistungszwang.“ Wenn alles sichtbar, kommunizierbar und optimierbar sein soll, dann wird die Depression zur Widerrede – sie verweigert die Produktivität.
Psychotherapie – sei sie psychoanalytisch, gestalttherapeutisch oder systemisch – kann dann zu einem Raum werden, in dem Depression nicht „behandelt“, sondern verstanden wird. Und vielleicht auch befragt: Was will sie uns sagen?
Was ist Depression – aus gruppenanalytischer Sicht?
Die Gruppenanalyse, wie sie von S.H. Foulkes (und später auch Pines, Dalal u. a.) weiterentwickelt wurde, betrachtet das psychische Geschehen des Einzelnen immer als eingewoben in soziale, sprachliche und historische Beziehungszusammenhänge. In dieser Perspektive ist Depression nicht nur ein Symptom der Rücknahme von Energie, Kontakt oder Lust – sondern auch ein Beziehungsphänomen, das sich innerhalb eines Gruppenfeldes formiert, artikuliert – oder nicht-artikulierbar bleibt.
Depressive Symptome entstehen aus dieser Sicht nicht ausschließlich durch intrapsychische Konflikte, sondern als Resonanzen auf Beziehungskonflikte, ungehörte Affekte, fehlende Spiegelung, fehlende Zugehörigkeit oder implizite Loyalitätsbindungen. Die Gruppe – sei es die Herkunftsfamilie, eine Schulklasse, ein Unternehmen oder eine therapeutische Gruppe – prägt, was gesagt werden darf, was gefühlt werden kann, was erinnert werden soll.
Der depressive Rückzug als Antwort auf das Gruppenfeld
In der Gruppe kann sich die Depression eines Einzelnen als „Antwort auf das Nicht-Gesagte der Gruppe“ manifestieren. Wenn zum Beispiel emotionale Themen tabuisiert oder unterdrückt werden, kann ein Gruppenmitglied – oft unbewusst – die Rolle des „Sprechenden durch Verstummen“ übernehmen: Der depressive Rückzug, das Verstummen, die Anhedonie werden zum kollektiven Symptom.
„Das Subjekt trägt die Last des Schweigens der Gruppe – nicht als individuelle Schwäche, sondern als Ausdruck eines sozialen Unbewussten.“
(Pines, Malcolm (1996): Innovation in Group Psychotherapy. Routledge)
Therapeutische Funktion der Gruppe
In der gruppenanalytischen Arbeit entsteht ein Raum, in dem depressive Affekte gehört, gespiegelt und symbolisiert werden können. Die Gruppe bietet:
Resonanz auf ungehörte Affekte,
Korrektur früherer Beziehungsstrukturen durch neue Erfahrungen (z. B. solidarisches Mitgefühl),
Soziale Verortung des individuellen Leidens („Ich bin nicht allein“),
Sprachlich-symbolische Integration früherer Ohnmacht oder unartikulierten Schmerzes.
In der Depression ist oft das Selbstbild eingefroren, der Andere wird als unerreichbar oder feindlich erlebt. Die Gruppe öffnet – in ihrer Vielstimmigkeit – die Möglichkeit, neue Selbst- und Objektbeziehungen zu erproben.
Abschließender Gedanke
Depressionen isolieren – Gruppenarbeit verbindet. Diese Verbindung ist u.a. ein Übungsfeld für symbolische Wiederaneignung dessen, was in frühen oder gegenwärtigen Beziehungen verloren ging wurde. Die gruppenanalytische Perspektive öffnet damit einen anderen Blick auf Depression: nicht als Defekt, sondern als soziale Spur eines nicht gehörten Rufes.
Literaturhinweise
Foulkes, S.H. (1990): The Group Analytic Process. Karnac, London.
Pines, Malcolm (1996): Innovation in Group Psychotherapy. Routledge, London.
Schmolke, Margarete (2000): Einführung in die Gruppenanalyse. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.
Dalal, Farhad (1998): Taking the Group Seriously: Towards a Post-Foulkesian Group Analytic Theory. Jessica Kingsley, London.
Skelton, Robert (2011): Group Analytic Therapy: A Meeting of Minds. Routledge, London.