Von der ICD-10 zu ICD-11: Psychische Störungen im Wandel eines Diagnoseparadigmas

Die Internationale Klassifikation psychischer Störungen ist von zentraler Bedeutung für Diagnostik, Therapieplanung, Forschung und gesundheitspolitische Steuerung. Die 11. Revision der International Classification of Diseases (ICD-11), veröffentlicht durch die World Health Organization (WHO), stellt eine tiefgreifende Überarbeitung der ICD-10 dar – insbesondere im Kapitel die psychischen, Verhaltens- und neurokognitiven Störungen. Diese Revision trägt dem naturwissenschaftlichen Fortschritt ebenso Rechnung wie bestimmten gesellschaftlichen, kulturellen und klinischen Erfordernissen.
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Ein Paradigmenwechsel in der Psychopathologie?
Klassifikatorischer Wandel
Während die ICD-10 ein weitgehend kategorialen Klassifikationssystem entworfen hat, verfolgt die ICD-11 einen hybriden Ansatz: Damit integriert sie kategoriale Diagnosen mit dimensionalen Bewertungsdimensionen wie Schweregrad, Verlauf, funktionale Beeinträchtigung und auch den kulturellen Kontext.
Beispiel: Eine depressive Episode wird nicht mehr nur durch den Mindestanzahl an Symptomen klassifiziert, sondern auch durch die Symptomschwere, der Funktionsbeeinträchtigung und Verlaufsmerkmale spezifiziert. Dies erleichtert sowohl eine differenziertere klinische Einschätzung als auch eine individuellere Therapieplanung.
Neue Störungsbilder im ICD-11
Komplexe posttraumatische Belastungsstörung (CPTSD)
Im Gegensatz zur ICD-10, die nur die klassische posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) kannte, differenziert die ICD-11 zusätzlich die komplexe PTBS, die typischerweise nach langanhaltenden Traumata entsteht (z. B. Folter, Missbrauch in der Kindheit). Diese umfasst neben den klassischen Symptomen (Wiedererleben, Vermeidung, Hyperarousal) auch anhaltende Affektregulationsstörungen, negative Selbstsicht und Beziehungsprobleme.
Diese Differenzierung reflektiert klinische Realitäten deutlich besser und öffnet die Tür für spezifischere therapeutische Ansätze (z. B. in der Trauma- und Gestalttherapie).
Prolongierte Trauerstörung
Neu aufgenommen wurde auch die prolongierte Trauerstörung (Prolonged Grief Disorder, PGD), die pathologische Trauerprozesse abbildet, bei denen die emotionale Bindung zum Verstorbenen übermäßig lange und in stark beeinträchtigender Weise bestehen bleibt. Diese Kategorie wurde eingeführt, um eine Abgrenzung zur Depression und zur kulturell „normalen“ Trauer zu ermöglichen.
Strukturveränderungen im Kapitel über psychische Störungen
Neue Kapitelstruktur (Kapitel 06)
Das Kapitel über psychische Störungen wurde in der ICD-11 grundlegend neu strukturiert. Die Klassifikation orientiert sich stärker an:
Entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten
Symptomcluster (z. B. Angst vs. Zwang vs. affektive Störungen)
Komorbiditätswahrscheinlichkeiten
Kultur- und geschlechtsspezifischen Aspekten
Ein zentrales Anliegen der ICD-11 war, klinisch anschlussfähiger zu sein als die ICD-10, deren Kategorien vielfach als zu starr und unpräzise kritisiert wurden. Zudem wurde die Trennung von organisch und nicht-organisch (z. B. in der Demenzdiagnostik) aufgeweicht.
Besondere Entwicklungen und Differenzierungen
Angststörungen und Zwangsstörungen
Die ICD-11 führt eine Trennung zwischen Angststörungen und Zwangsspektrumsstörungen durch. Während Zwangsstörungen und körperdysmorphe Störungen ein eigenständiges Spektrum bilden, werden klassische Angststörungen (z. B. Generalisierte Angststörung, Panikstörung) separat geführt.
Diese Unterscheidung erlaubt eine präzisere nosologische und therapeutische Bearbeitung, insbesondere da die neurobiologischen Grundlagen und Reaktionsweisen auf Interventionen (z. B. SSRIs vs. Expositionstherapie) sich klar unterscheiden.
Persönlichkeitsstörungen: Radikale Neuerung
Eine der umfassendsten Neuerungen betrifft das Konzept der Persönlichkeitsstörungen. Während die ICD-10 noch klassisch-typologisch vorging (z. B. emotional-instabil, ängstlich-vermeidend, narzisstisch etc.), ersetzt die ICD-11 dieses Modell durch ein dimensionales Schweregradmodell:
Leicht / Mäßig / Schwer in Bezug auf Persönlichkeitsdysfunktion
Möglichkeit zur spezifizierenden Deskriptoren (z. B. negativ-affektiv, dissozial, zwanghaft)
Dieses Modell reflektiert neuere empirische Befunde, wonach Persönlichkeitsstörungen eher Kontinua als klar abgrenzbare Typen darstellen. Es erleichtert die diagnostische Arbeit und reduziert die Komorbiditätsprobleme, welche bei der ICD-10 häufig zu „Mehrfachdiagnosen“ führten.
Subjektivierung und kulturelle Kontexte
Ein weiterer Meilenstein der ICD-11 ist die Integration von kultur- und kontextsensiblen Merkmalen. Diagnosen können im Hinblick auf kulturell gebundene Ausdrucksformen (z. B. somatisierte Depressionen in asiatischen Kulturen) besser justiert werden. Auch geschlechtsspezifische Unterschiede und sozioökonomische Faktoren finden stärkere Berücksichtigung.
Zudem wurde die Rolle der funktionalen Beeinträchtigung als Diagnoseschlüsselmerkmal gestärkt. Dies bedeutet eine Entpathologisierung bloßer Symptome zugunsten der Beurteilung, ob die Betroffenen im Alltag, in der Arbeit oder im sozialen Leben eingeschränkt sind.
Fazit: Mehrdimensionale Diagnostik als Zukunftsmodell
Die ICD-11 spiegelt einen Wandel von einem klassischen, starren System hin zu einem dynamischeren, kontextuellen und transdiagnostischen Paradigma wider. Besonders im Bereich der psychischen Erkrankungen ermöglicht sie differenziertere Diagnosen und stärkt die klinische Praxis durch einen besseren Anschluss an empirische und erfahrungsbasierte Erkenntnisse.
Die Integration dimensionaler Kriterien, die Einführung neuer Störungen und die radikale Umgestaltung der Persönlichkeitsdiagnostik machen die ICD-11 zu einem richtungsweisenden Instrument. Für PsychotherapeutInnen, PsychiaterInnen und ForscherInnen eröffnet sie neue Möglichkeiten der Individualisierung, Reflexion und Präzision.
Bereich | ICD-10 | ICD-11 |
---|---|---|
Struktur | Statischer Katalog, Printformat | Modular, digital, API-fähig |
Diagnosemodell | Kategorial (z. B. F32.1 = mittelgradige Depression) | Kategorial + dimensional (z. B. Schweregrad, Funktionsbeeinträchtigung) |
Traumafolgestörungen | Nur PTBS | PTBS + Komplexe PTBS |
Trauer | Keine eigenständige Kategorie | Prolongierte Trauerstörung (PGD) |
Verhaltenssüchte | Kein Eintrag zu Spielsucht | Gaming Disorder als eigenständige Diagnose |
Persönlichkeitsstörungen | Typenbasiert (z. B. narzisstisch, ängstlich) | Dimensional (leicht, mittel, schwer) + Deskriptoren |
Angst & Zwang | Gemeinsames Kapitel | Zwangsstörungen als eigenes Spektrum |
Somatoforme Störungen | Symptomzentriert | Funktionalitätszentriert, z. B. Bodily Distress Disorder |
Kultur & Gender | Geringe Beachtung | Kultur- und gendersensible Formulierungen |
Klinische Anwendung | Teilweise schwer praktikabel | Klinisch anschlussfähig, entwicklungsorientiert |
Literatur
Reed, Geoffrey M. et al. (2019): Innovations and Changes in the ICD-11 Classification of Mental, Behavioural and Neurodevelopmental Disorders. World Psychiatry. WHO, Genf.
First, Michael B.; Reed, Geoffrey M.; Hyman, Steven E.; Saxena, Shekhar (2015): The development of the ICD-11 Clinical Descriptions and Diagnostic Guidelines for Mental and Behavioural Disorders. World Psychiatry. WHO, Genf.
World Health Organization (2022): International Classification of Diseases for Mortality and Morbidity Statistics (ICD-11 MMS). WHO, Genf.
Tyrer, Peter; Mulder, Roger; Kim, Yoon; Crawford, Mike (2019): The Development of the ICD-11 Classification of Personality Disorders: An Amalgam of Science, Pragmatism, and Politics. Annual Review of Clinical Psychology. Annual Reviews, Palo Alto.
Stein, Dan J. et al. (2020): The ICD-11 Classification of Mental Disorders: A Global Clinical Perspective. World Psychiatry. WHO, Genf.
ICD-11
Ein Link zur Website von Stefan Kaelin, der eine thematische gegliederte Übersicht bzw. Mindmaps zur ICD-11 anbietet, Kompliment