Psychosomatische Beschwerden – der Leib spricht …

1. Einleitung und Begriffsklärung
Psychosomatische Beschwerden stehen exemplarisch für eine Grundspannung des Menschseins: die Untrennbarkeit von Leib und Seele, von Subjektivität und Biologie, von Sprache und Körper. Sie entziehen sich der Trennung von „Psyche“ und „Soma“ und fordern ein Denken jenseits der Dualismen. Symptome wie funktionelle Schmerzen, Atemnot, Herzrasen oder Hautirritationen ohne klare organische Ursache sind keine Täuschungen – sondern „leibgewordene Botschaften“, die nicht selten dort sprechen, wo das Subjekt verstummt.
In der ICD-10 (Kap. F45) firmieren sie unter somatoformen Störungen, im DSM-5 als Somatic Symptom Disorders. Dabei offenbart sich bereits in der Klassifikation ein gewisses Reduktionsproblem: Was nicht messbar ist, wird schnell als „nicht real“ abgewertet – ein Ausdruck normativer, biomedizinischer Engführungen.
mehr Erfahren
Psychosomatische Beschwerden – das sprechende Leiden des Körpers
Verbreitung und gesellschaftlicher Kontext
Psychosomatische Beschwerdebilder nehmen seit Jahrzehnten zu. In Europa berichten laut WHO (2022) etwa 25–30 % der Bevölkerung regelmäßig von körperlichen Symptomen ohne ausreichende medizinische Ursache. In Hausarztpraxen machen sie bis zu 50 % der Beschwerden aus. Besonders hoch ist der Anteil bei Jugendlichen: Der KiGGS-Report (RKI, 2019) zeigt, dass fast 20 % der 11–17-Jährigen regelmäßig über Bauch- oder Kopfschmerzen, Schlafprobleme oder Erschöpfung klagen – ohne organischen Befund. Den Zahlen entsprechend ist der Bedarf an Psychotherapie hoch und die Symptomatik bestimmt viele Psychotherapien – zumindest als Begleiterscheinung.
Diese Zahlen sind Ausdruck des Problems einer Gesellschaft, in der Leistung, Optimierung und Selbstverantwortung zu Leitidealen erhoben wurden. Wer nicht „funktioniert“, fällt aus dem Raster – psychosomatische Symptome können hier als stille Widerstände gelesen werden: „Der Körper streikt, wo das Subjekt nicht darf.“
Psychotherapeutische Zugänge und Sichtweisen
Gestalttherapie: Der Körper als Leib – Kontakt und Unterbrechung
In der Gestalttherapie wird der Mensch nicht als „Objekt“ mit einem Körper verstanden, sondern als leibliches Subjekt, das durch seinen Körper in Beziehung zur Welt tritt. Der Begriff des Leibs verweist – anders als der des „Körpers“ – auf das erlebte und wahrnehmende Selbst, das sich in Bewegung, Berührung, Atmung, Spannung ausdrückt. Der Leib ist nicht nur Träger von Symptomen, sondern Ausdruck eines Prozesses, in dem Innen und Außen sich begegnen.
Organismischer Kontakt
Der zentrale Begriff des organismischen Kontakts bezeichnet die spontane, lebendige Wechselwirkung zwischen Organismus und Umwelt. Dieser Prozess ist kein rein kognitiver, sondern zutiefst leiblich-affektiver Vorgang: Bedürfnisse werden gespürt, Grenzen erfahren, Begegnungen gesucht oder vermieden. Gesundheit zeigt sich in der Fähigkeit, Bedürfnisse wahrzunehmen und stimmig mit der Umwelt in Austausch zu treten. Unter anderem werden diese Themen im Rahmen der Psychotherapie dialogisch, also „in der unmittelbaren Begegnung“ mit dem Therapeuten, der Psychotherapeutin bearbeitet.
Psychosomatische Beschwerden erscheinen hier als Blockaden dieses organismischen Prozesses. Wenn Kontaktwünsche (z. B. Nähe, Abgrenzung, Ausdruck von Aggression) unterdrückt oder nicht regulierbar sind, verlagert sich die Spannung in den Körper. Der Körper übernimmt – so die gestalttherapeutische Sicht – eine Kommunikationsfunktion, die dem bewussten Erleben nicht mehr zugänglich ist.
Offene Gestalten
Der Begriff der „offenen Gestalt“ meint nicht einfach eine nicht abgeschlossene Form (wie etwa eine vergessene Aufgabe), sondern einen abgebrochenen Prozess leiblich-emotionaler Kontaktaufnahme. Die Gestalt ist hier nicht nur kognitiv, sondern leiblich und affektiv. Wenn etwa ein Impuls zu Nähe in der Kindheit regelmäßig mit Scham oder Schmerz beantwortet wurde, wird diese Bewegung im Erwachsenenalter unterbrochen, bevor sie das Bewusstsein erreicht. Der Organismus „weiß“ – durch Spannung, Rückzug, Symptombildung – von etwas, das das Bewusstsein nicht mehr zu sagen vermag.
Votsmeier beschreibt diese unterbrochenen Gestalten als „gefrorene Prozesse“, die sich im therapeutischen Feld „auftauen“ können – durch leiblich-emotionales Resonanzgeschehen.
(Votsmeier, Andreas (2020): Leib – Figur – Feld. EHP)
Systemische Perspektive: Symptome als soziale Grammatik
Die systemische Theorie betrachtet Symptome nicht als individuelle Fehlleistungen, sondern als kommunikative Ausdrucksformen in relationalen Kontexten. Das Symptom ist ein Zeichen in einem System – oft nicht intentional, aber funktional: Es zeigt etwas an, was nicht gesagt werden darf oder kann.
Theoretische Vertiefung
Systemische Ansätze gehen von zirkulären Prozessen aus: Ein Symptom wie chronische Erschöpfung kann innerhalb eines Familiensystems eine Entlastungsfunktion erfüllen – etwa, indem es Nähe oder Rückzug legitimiert, Schuldgefühle abwehrt oder Loyalitäten bewahrt. Der Körper wird so zum Träger impliziter Botschaften.
Die Theorie der Autopoiesis (Maturana/Varela) liefert hier eine wichtige Grundlage: Ein soziales System operiert nicht durch „Input-Output“, sondern durch eigene Sinnzuschreibungen. Das Symptom ist demnach nicht auf einen Auslöser zurückzuführen, sondern innerhalb eines Bedeutungsraums zu verstehen, den das System selbst erzeugt. Der Körper wird zum Träger dieser semiotischen Übertragungen.
Arnold Retzer formuliert:
„Symptome sind nicht das Problem – sie sind Teil einer Lösung, die das System hervorgebracht hat, um sich zu stabilisieren.“
*(Retzer, Arnold (2006): Systemische Therapie – Ein kritischer Überblick.)
Beispiel: Familiäre Transgenerationale Dynamik
Ein junger Mann mit funktionellen Herzbeschwerden wird in der Therapie als Träger eines unausgesprochenen familiären Traumas erkannt: Der frühe Herztod des Großvaters wurde nie betrauert. Der Enkel „verkörpert“ nun das Schweigen über Verlust und Tod. Das Herz-Symptom wird zur poetischen Grammatik des Unaussprechlichen.
Strukturelle Psychoanalyse: Das Symptom als Riss im Symbolischen
Die strukturelle Psychoanalyse (v. a. Lacan) versteht das Subjekt als im Symbolischen konstituiert – durch Sprache, kulturelle Ordnung, Namen, Gesetze. Der Körper ist hier nicht einfach „natürlich“, sondern vom Signifikanten durchzogen – er ist Träger symbolischer Einschreibungen. Psychosomatische Symptome entstehen dort, wo die symbolische Ordnung versagt – wo etwas nicht repräsentierbar ist und sich daher im Realen manifestiert.
Der „loquende Körper“ (Lacan) spricht nicht metaphorisch, sondern wörtlich: Der Körper ist Austragungsort eines symbolischen Defizits. Besonders in psychosomatischen Störungen wird deutlich, dass das Subjekt nicht mehr durch das Begehren des Anderen strukturiert ist, sondern körperlich leidet, ohne symbolischen Zugriff auf dieses Leiden.
Vergleich zur klassischen Psychoanalyse
Während die klassische Psychoanalyse das psychosomatische Symptom als Kompromissbildung zwischen Trieb, Abwehr und Ich auffasst, verweist die strukturelle Psychoanalyse auf einen Mangel im Symbolischen. Das Symptom ist nicht mehr zu deuten, sondern verweist auf eine Entsymbolisierung und die Dominanz des Realen
„Das psychosomatische Leiden ist kein Code – es ist ein Einbruch des Realen.“
*(Lacan, Jacques (1975): Das Seminar XVII: Die Kehrseite der Psychoanalyse.)
Zizek’s Perspektive: Symptom als ideologischer Bruch
Slavoj Žižek verortet das psychosomatische Symptom in einem ideologiekritischen Rahmen: Es ist nicht einfach ein Zeichen der Krankheit, sondern der Unmöglichkeit, vollständig in die Anforderungen der neoliberalen Kultur einzugehen. In einer Welt, die das Subjekt zur permanenten Selbstoptimierung zwingt, wird der Körper zum Ort der Revolte.
„Der psychosomatische Schmerz ist die letzte Bastion des Subjekts gegen das Imperativ: Genieß! Sei produktiv! Sei gesund!“
(Žižek, Slavoj (2008): Violence. Picador, New York.)
Psychoanalyse
Die klassische Psychoanalyse (und ihre Weiterentwicklungen) sieht im psychosomatischen Symptom oft einen Kompromiss zwischen verdrängten Wünschen, unbewussten Fantasien und Ich-Abwehr. Besonders interessant ist hier die Theorie der sogenannten „Konversionssymptome“, die unbewusste Konflikte körperlich ausdrücken. Freud sprach von „organhaften Neurosen“. Spätere Autoren wie u.a. Green entwickelten die Theorie der „operativen Ich-Funktion“, wonach psychosomatische Patienten oft ein vermindertes Symbolisierungsvermögen aufweisen. Das Symptom wird nicht gedeutet, sondern somatisch „ausagiert“.
Gesellschaftliche Bedeutung und Herausforderungen
Psychosomatische Erkrankungen stehen exemplarisch für die Verschränkung von Körper, Psyche und Gesellschaft. In einer zunehmend stressgeprägten, leistungsorientierten Kultur kommt dem Körper oft die Rolle des letzten Sprechers zu. Die somatische Ausdrucksweise ist oft das, was gehört wird – wenn die Sprache der Seele nicht erlaubt ist. Besonders bei Kindern und Jugendlichen spielen schulischer Druck, soziale Isolation und digitale Überforderung eine große Rolle.
Zugleich ist die Versorgungslage schwierig: Fachambulanzen für Psychosomatik sind überlaufen, therapeutische Hilfe ist oft erst nach monatelanger Wartezeit verfügbar. Der Mangel an interdisziplinären Zugängen erschwert die Integration somatischer und psychischer Diagnostik.
Gruppenanalyse: Der Körper als Träger kollektiver Spannungen
Die Gruppenanalyse, begründet von S.H. Foulkes, versteht das Individuum nie isoliert, sondern immer als Teil eines sozialen Netzes – eines „matrixhaften Gefüges“, das Kommunikation, Bedeutung und Verhalten strukturiert. Auch psychosomatische Symptome erscheinen aus gruppenanalytischer Sicht nicht nur als innerpsychische Konflikte, sondern als resonante Antworten auf unbewusste Gruppendynamiken, kollektive Spannungen und unausgesprochene Tabus im sozialen Raum.
In der Gruppe, so Foulkes, wird das individuelle Symptom zum gemeinsamen Bedeutungsträger: Es kann das ausdrücken, was die Gruppe als Ganzes nicht sagen darf oder will. Der Körper übernimmt – wie im systemischen Denken – eine kommunikative Funktion. Aber während die systemische Sicht stärker auf familiäre oder strukturelle Funktionen fokussiert, beleuchtet die Gruppenanalyse den innerpsychisch-interpersonellen Raum, der sich im Sprechen, Schweigen, Wiederholen und Affizieren in der Gruppe zeigt.
Beispiel: Resonanzphänomene in psychosomatischer Gruppentherapie
In einer psychotherapeutischen Gruppe berichtet eine Patientin von wiederkehrenden Panikattacken und Atemnot. Während sie spricht, werden andere Gruppenmitglieder unruhig, verspannen sich, atmen flach. Im gruppenanalytischen Prozess zeigt sich: Ihre Symptomatik aktiviert ein nicht besprochenes Thema – ein verdrängter Verlust in der Gruppe. Die Symptome der Einzelnen sind hier Träger gemeinsamer, aber nicht bewusster emotionaler Wirklichkeiten.
Theoretische Vertiefung
Die Gruppenanalyse betont, dass Sprache, Körper und Affekte in der Gruppe zirkulieren, nicht vollständig im Besitz des Einzelnen sind. Das psychosomatische Symptom ist dann nicht bloß privat, sondern Ausdruck einer geteilten Unfähigkeit, symbolisch mit bestimmten Erfahrungen umzugehen – sei es Schuld, Trauer, Nähe oder Differenz.
„Die Gruppe ist das Medium, in dem der Einzelne zur Sprache kommt – oder zum Schweigen gezwungen wird.“
(Foulkes, S.H. (1990): The Group Analytic Process. Karnac)
Diese Perspektive verbindet sich hervorragend mit der strukturellen Psychoanalyse: Beide erkennen das Subjekt als von Sprache und Anderem durchzogen – und beide sehen im Symptom nicht einfach einen Defekt, sondern eine Antwort auf eine unmögliche symbolische Position.
Philosophie, Leiblichkeit und Gesellschaftskritik – Vom Symptom als Zeichen zum Symptom als Widerstand
Psychosomatische Beschwerden können nicht nur klinisch, psychodynamisch oder systemisch verstanden werden – sie fordern auch eine philosophische Lektüre des Leibes, der Sprache und der Machtverhältnisse, in denen das Subjekt existiert. Der leidende Körper ist nicht einfach dysfunktional, sondern wird zur Schnittstelle zwischen Biographie, Kultur und Macht.
Leib als Ort der Welt: Merleau-Ponty und Waldenfels
Für Maurice Merleau-Ponty ist der Leib nicht einfach Körper, sondern das vor-symbolische In-der-Welt-Sein des Menschen. Er schreibt:
„Ich bin mein Körper – zumindest in dem Sinne, dass ich ihn nicht besitze, sondern bin.“
(Merleau-Ponty, Maurice (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. de Gruyter)
Psychosomatische Beschwerden zeigen sich dann nicht als bloße Fehlfunktionen, sondern als gestörte Welthabe. Die Welt „entzieht“ sich dem leiblichen Subjekt – es ist da, aber kann sich nicht mehr stimmig in seinen Vollzügen vollziehen. Bernhard Waldenfels erweitert diese Perspektive durch seine Theorie der leiblichen Responsivität: Symptome sind Antworten auf eine gestörte Ansprechbarkeit. Der Körper antwortet auf eine Erfahrung der Entfremdung, des Ausschlusses, des Nicht-gehört-Werdens.
„Der Leib antwortet, wo das Ich schweigt – aber nicht mit Bedeutung, sondern mit Irritation.“
(Waldenfels, Bernhard (1990): Der Stachel des Fremden. Suhrkamp)
Diese Perspektive korrespondiert stark mit der Gestalttherapie, insbesondere bei Votsmeier und Stemmler, die von einem „unterbrochenen Kontaktfeld“ sprechen. Der psychosomatische Schmerz ist somit kein Defizit, sondern eine Antwort auf ein unterbrochenes Weltverhältnis.
Foucault: Die Disziplin des Körpers – Macht und Psychosomatik
Michel Foucault hat in seinen Analysen des modernen Subjekts gezeigt, wie Macht sich in Körper einschreibt – nicht durch Gewalt, sondern durch Normierung, Disziplin, Biopolitik. Die moderne Gesellschaft produziert einen „funktionierenden Körper“ – einen Körper, der arbeiten, genießen, gehorchen soll. Wer nicht funktioniert, wird medizinisch erfasst, klassifiziert, reglementiert.
„Der Körper wird nicht unterdrückt – er wird produktiv gemacht.“
(Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Suhrkamp)
Psychosomatische Symptome können hier als Störungen im Dispositiv der Produktivität verstanden werden – als leibliche Ausfälle gegenüber dem Imperativ zur Leistungsfähigkeit. In diesem Sinne lässt sich sagen: Der psychosomatische Mensch gehorcht nicht mehr – nicht dem Arzt, nicht dem Arbeitsmarkt, nicht der Selbstoptimierung. Das ist keine Pathologie, sondern Widerstand – in Foucaultscher Lesart sogar ein politischer Akt.
Derrida: Dekonstruktion des Symptoms – das Unentscheidbare
Für Jacques Derrida ist jedes Zeichen mehrdeutig, verschoben, nie ganz präsent. Auch das Symptom ist kein klarer Träger von Bedeutung, sondern ein Spalt, ein Aufschub, eine Verschiebung. Derridas Begriff der différance lässt sich auf psychosomatische Symptome übertragen: Sie sind nicht eindeutig deutbar, sie verweigern sich der Zuordnung. Sie sprechen, aber sie sagen nicht, was sie meinen – sie entziehen sich jedem eindeutigen Sinn.
„Das Symptom ist weder Subjekt noch Objekt – es ist ein Ort der Unentscheidbarkeit.“
(vgl. Derrida, Jacques (1989): Die Schrift und die Differenz. Suhrkamp)
Dies ist besonders anschlussfähig an die strukturelle Psychoanalyse: Das Symptom ist nicht „codierbar“, sondern markiert eine Leerstelle im Subjekt, die sich nie vollständig in Sprache auflöst.
Heidegger: Die Seinsvergessenheit des modernen Menschen
In der Perspektive Martin Heideggers erscheint das psychosomatische Leiden als Ausdruck der „Seinsvergessenheit“ – der Entfremdung des Menschen von seinem ursprünglichen In-der-Welt-Sein. Der Körper, der leidet, ist nicht ein kaputtes Organ, sondern ein Ruf des Seins, der sich der technischen Verfügbarkeit entzieht. In der heutigen Zeit, in der alles auf Funktionalität, Reproduzierbarkeit und Machbarkeit ausgerichtet ist, stellt das psychosomatische Symptom eine Störung dieser Seinsordnung dar.
„Das, was nicht funktioniert, zeigt das Vergessene.“
(frei nach Heidegger, Martin (1954): Der Ursprung des Kunstwerks. Klostermann)
Der psychosomatische Mensch „stolpert“ aus der technischen Welt – sein Körper verweigert den reibungslosen Vollzug, er tritt aus dem Funktionieren heraus und erinnert an das, was Heidegger „das Unverfügbare“ nennt.
Zusammenführung: der schmerzende Leib
In der Verschränkung dieser Perspektiven – leibphänomenologisch, dekonstruktiv, machttheoretisch, ontologisch – wird deutlich: Der psychosomatische Schmerz ist mehr als ein medizinisches Phänomen. Er ist:
eine Unterbrechung der normativen Zeitstrukturen (Leistung, Optimierung, Dauerverfügbarkeit),
eine Antwort auf entleerte soziale Räume, in denen Sprache durch Algorithmen, Beziehungen durch Rollen ersetzt wurden,
eine Widerstandsgeste des Leibes gegen die Totalisierung durch Selbstverwertung.
Fazit der philosophischen Erweiterung
Psychosomatische Beschwerden sind nicht einfach zu „heilen“ – sie müssen verstanden, gehört, geachtet werden. Der Körper spricht nicht bloß ein Symptom aus – er macht einen Einspruch geltend. Gegen die Entkörperlichung durch Sprache, gegen die Standardisierung durch Therapie, gegen die Verfügbarmachung durch Kapitalismus.
In diesem Sinne ist Psychotherapie – in all ihren Formen – eine politische Praxis, die dem Sprechen des Körpers Raum gibt, ohne es zu vereinnahmen.
Was sagt mein Körper, wenn ich nicht mehr sprechen kann?
Viele Menschen erleben körperliche Schmerzen, für die es keine ausreichende medizinische Erklärung gibt: chronische Rückenschmerzen, Magenprobleme, Herzklopfen, Hautausschläge, Erschöpfung. Die Ursache? Oft nicht im Körper, sondern in dem, was uns fehlt, über uns selbst zu sagen.
In der Psychotherapie sprechen wir dann von psychosomatischen Beschwerden. Das bedeutet: Der Körper übernimmt eine Sprache, wo wir selbst keine Worte (mehr) finden. Und diese Sprache ist nicht falsch – sie ist vielleicht die ehrlichste, die wir haben.
Der Körper als Widerstand
In einer Welt, in der alles funktionieren, leisten und sich optimieren soll, kann der Körper zum leisen Protest werden. Gegen Druck, gegen Überforderung, gegen ein Leben, das sich falsch anfühlt. So gesehen ist der Schmerz nicht einfach ein Fehler – sondern eine letzte Form der Wahrheit.
Ein Beispiel aus der Praxis
Eine junge Frau kommt wegen chronischer Migräne. Medizinisch ist alles „in Ordnung“. In der Therapie zeigt sich: Die Schmerzen beginnen immer dann, wenn sie mit Erwartungen ihrer Familie konfrontiert ist, die sie nicht erfüllen kann – oder will. Ihr Körper sagt „nein“, wo sie selbst nicht darf. Das ist keine Krankheit, das ist ein Ausdruck einer blockierten Entscheidung.
Was sagt die Philosophie dazu?
Denken wir mit Merleau-Ponty: Wir „haben“ unseren Körper nicht – wir sind unser Leib. Er fühlt, erlebt, erinnert. Und manchmal leidet er – nicht weil etwas kaputt ist, sondern weil etwas fehlt: ein Wort, eine Grenze, ein Sinn.
Auch der Philosoph Michel Foucault hat gezeigt: Die moderne Gesellschaft verlangt, dass wir „funktionieren“. Wer das nicht tut, wird behandelt – oder aussortiert. Vielleicht ist genau das der Moment, wo der Körper zu sprechen beginnt. Nicht als Störung, sondern als Ruf: „Hör mich endlich.“
Was kann Therapie tun?
In der Gestalttherapie fragen wir: Wo wurde der Kontakt zur Welt unterbrochen? In der systemischen Therapie: Welche Rolle spielt das Symptom im sozialen Gefüge? In der Psychoanalyse: Was konnte nicht gesagt werden – und spricht jetzt im Körper?
Gemeinsam suchen wir nicht nach schnellen Lösungen, sondern nach verlorenem Sinn. Damit der Körper nicht länger allein sprechen muss.