Angststörungen – Zwischen subjektivem Erleben und gesellschaftlicher Realität

Diagnostische Einordnung
Angststörungen gehören laut ICD-10 (F40-F41: Text hier im Web) und DSM-5 zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Dazu zählen spezifische Phobien, soziale Phobie, Panikstörung, Agoraphobie und die Generalisierte Angststörung (GAS). Gemeinsames Merkmal ist eine übermäßige, nicht realitätsangemessene Angst, die Alltagsfunktionen deutlich beeinträchtigt. Symptome umfassen psychische (Unruhe, Sorgen, Kontrollverlust) und somatische Komponenten (Herzrasen, Atemnot, Schwindel).
Epidemiologie und gesellschaftlicher Kontext
Weltweit leiden ca. 264 Millionen Menschen an Angststörungen (WHO, 2017). In Mitteleuropa sind es etwa 15–20 % im Lebensverlauf. Auffällig ist der Anstieg bei jungen Erwachsenen, bedingt durch gesellschaftlichen Leistungsdruck, soziale Vergleiche, unsichere Zukunftsperspektiven und permanente digitale Erreichbarkeit.
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Angst – Pathologie – Psychotherapie
Psychotherapeutische Perspektiven
Gestalttherapie (GTh): Angst als Kontaktunterbrechung
In der GTh gilt Angst als gestörter Kontaktprozess zwischen Individuum und Umwelt. Der Begriff „Angst“ (indogermanisch angh, „Enge“) beschreibt dabei einen körperlich erfahrbaren Zustand eingeschränkter Atmung und Handlungsfähigkeit (Perls, 1969). Fritz Perls definierte Angst als „Erregung minus Sauerstoff“ und beschrieb sie als Spannung zwischen dem Jetzt und dem Befürchteten.
Differenzierung Angst vs. Furcht:
Furcht: Rational nachvollziehbar, konkrete Bedrohung, mobilisiert Reaktionen.
Angst: Diffuse Enge, blockierte organismische Erregung, lähmt den Handlungsausdruck.
Generalisierte Angststörung (GAS):
Chronisches Sorgen zeigt laut Winter (2020) einen dauerhaft unterbrochenen Kontaktprozess und mangelnde Selbstunterstützung. Ziel der GTh ist die Vervollständigung des Kontaktzyklus und Erhöhung der Selbstregulation.
Therapeutische Interventionen:
Bewusstmachung, experimentelles Arbeiten (Rollenspiele, Stuhlarbeit), Fokus auf das Hier-und-Jetzt. Zentrale Rolle spielt die therapeutische Beziehung als sicherer, empathischer Raum (Robine, 2013; Francesetti et al., 2013).
Obwohl klinisch bewährt, ist die Forschung zur Wirksamkeit der GTh noch unzureichend (Winter, 2020; Elliot et al., 2013). Weitere Studien sind notwendig, um spezifische Wirkmechanismen genauer zu untersuchen.
Psychoanalyse (PA): Angst als Signalfunktion
Freuds klassische PA sieht Angst als Signal für drohendes Eindringen verdrängter Inhalte ins Bewusstsein (Freud, 1926). Jacques Lacan betont dagegen das fehlende Objekt (Objekt a) als Kern der Angst – eine existenzielle Konfrontation mit dem Realen. Angst verweist hier auf grundlegende Aspekte des Begehrens und Mangels, bietet jedoch Zugang zur subjektiven Wahrheit.
Therapeutisch gilt es, die symbolische Ordnung zu rekonstruieren und die Rolle des Realen anzunehmen, statt Angst zu beseitigen (Lacan, 2006).
Systemische Therapie: Angst als Ausdruck des Systems
In der systemischen Therapie ist Angst Ausdruck einer Kommunikationsstörung innerhalb sozialer Systeme (Familien, Partnerschaften). Angst hat darin oft eine Funktion: Sie signalisiert Ungleichgewichte oder hält verborgene Konflikte aufrecht.
Systemische Interventionen beinhalten Externalisierungen (Angst als externe Figur), Aufstellungen oder die Eröffnung neuer Bedeutungsräume, um die Angst von ihrer lähmenden Funktion zu entkoppeln.
Philosophische Perspektiven
Heidegger unterscheidet zwischen konkreter Furcht („vor etwas“) und existenzieller Angst („vor dem Nichts“), die das Wesen menschlicher Existenz offenbart (Heidegger, 1927). Kierkegaard sieht die Angst als existenzielle Grundbefindlichkeit und Potential zur Freiheit (Kierkegaard, 1844). Und Foucault analysiert sie als Instrument gesellschaftlicher Kontrolle und Disziplinierung (Foucault, 1977).
Diese Sichtweisen zeigen das Phänomen nicht nur als Defizit, sondern auch als existenziellen und gesellschaftlichen Kraft.
Kritische Gesellschaftsanalyse
Ein rein medizinischer Blick auf Angst übersieht die strukturellen Ursachen: Entfremdung, Prekarisierung, neoliberale Selbstoptimierung und soziale Unsicherheiten. Angst erscheint als Symptom spätkapitalistischer Gesellschaften, die Sicherheit versprechen, jedoch Unsicherheit produzieren (Zizek, 2001; Ehrenberg, 2004).
Fazit
Angststörungen sind Ausdruck individueller Leiden und zugleich kollektiver Zustände unserer Zeit. Die therapeutische Arbeit mit Angst braucht mehr als Symptomkontrolle – sie braucht Dialog, Beziehung, Kontext, Körperbewusstsein und Mut, dem Unheimlichen offen zu begegnen.
Literatur
Angus, Lynne / Watson, Jeanne / Greenberg, Leslie (2015): Humanistic psychotherapies. In: Lambert, Michael (Hrsg.): Bergin and Garfield’s Handbook of Psychotherapy and Behavior Change. Wiley, New York.
Ehrenberg, Alain (2004): Das erschöpfte Selbst. Suhrkamp, Frankfurt am Main.
Elliot, Robert et al. (2013): Research on Humanistic-Experiential Psychotherapies. In: Cain, D.J. (Hrsg.): Humanistic Psychotherapies: Handbook. APA, Washington.
Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Suhrkamp, Frankfurt am Main.
Francesetti, Gianni / Gecele, Michela / Roubal, Jan (2013): Gestalt Therapy in Clinical Practice. FrancoAngeli, Mailand.
Freud, Sigmund (1926): Hemmung, Symptom und Angst. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien.
Heidegger, Martin (1927): Sein und Zeit. Niemeyer, Tübingen.
Kierkegaard, Søren (1844): Der Begriff Angst. Reclam, Leipzig.
Lacan, Jacques (2006): Das Seminar. Buch X: Die Angst. Turia + Kant, Wien.
Lambert, Michael J. (2013): The efficacy and effectiveness of psychotherapy. In: Bergin and Garfield’s Handbook of Psychotherapy and Behavior Change. Wiley, New York.
Perls, Fritz (1969): Gestalttherapie: Praxis und Theorie. Klett-Cotta, Stuttgart.
Robine, Jean-Marie (2013): On the Occasion of an Other. L’Epoké, Bordeaux.
Roth, Anthony / Fonagy, Peter (2013): What Works for Whom? Guilford Press, New York.
Winter, Susanne M. (2020): Ich zähle täglich meine Sorgen. Masterarbeit, Donau-Universität Krems.
Zizek, Slavoj (2001): Willkommen in der Wüste des Realen. Suhrkamp, Frankfurt am Main.